Freitag, 7. Oktober 2011

360° oder: Wohin es führt


Wohin es führt, ist eine recht angebrachte Frage nach fast einem Jahr des Bloggens; denn wohl oder übel nähern wir uns mit großen Schritten dem Herbst, und somit dem Wintersemester 2011 / 2012. Ein ganzes Jahr ist vorbei und aus dem einstigen Ersti wird ein Drittsemester mitten im Studium.

Wie schon auf dem Ersti-Blog wurden in den vergangenen sechs Monaten Speisen getestet, waghalsige Ausflüge ins nördliche Hessen wurden unternommen, es wurde sich gewundert und gefreut; doch wo ist der Unterschied? Und was bleibt tatsächlich auf den zweiten Blick bestehen?

Nach dem ersten Semester in Marburg kann man einen Eindruck erhalten, eine Vermutung aussprechen, nämlich dass es hier im wilden Hessen doch recht gesittet zugeht; und dass diese Stadt mit ihrem Schloss und ihren Bewohnern ein ordentliches Fleckchen Erde ist, das zum Bleiben einlädt.
Nach dem zweiten Semester in Marburg besteht die Gewissheit, dass dies tatsächlich so ist.

Was bleibt also?
Marburg bleibt.
Und hat auf den zweiten Blick voll und ganz bestanden.
Denn „in Marburg“, erklärte man mir zuletzt in einer Mitfahrgelegenheit auf dem Weg in die Hauptstadt, „kann man sich um 360 ° drehen und alles, was man sieht, ist schön.“ In Berlin sei das anders. 

Aber wie geht es nun weiter?
Geht es weiter?
Es geht weiter.

Denn die Frage aller Fragen - was tun mit Anthropologie? - wurde noch längst nicht beantwortet. Und so lange diese Frage auf eine Antwort wartet, warten wir mit ihr. 

Passend zum Start des nahenden Wintersemesters findet also ein kleiner Umzug statt, - und wir beginnen mit der Verköstigung feinster Blogschokolade. Alle Naschkatzen und auch alle Gelegenheitsschnäker sind gern gesehen und allen, die mich und diesen Blog in den letzten sechs Monaten begleitet haben, sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.

Freitag, 30. September 2011

Der Weihnachtswahnsinn

Unser Leben wird von Schnelligkeit dominiert. Schnelllebigkeit heißt das dann. Das 21. Jahrhundert ist schneller als das Licht und wir eilen hinterher, - gedanklich und emotional. Nur saisonal sind wir uns selbst voraus. 


Das gehört dazu, und man muss es wissen, um sich nicht über die Weihnachtsbäume und Spekulatius zu wundern, die in diesen Tagen etwa zwei Monate zu früh die Schaufenster und Ladenauslagen eroberten.
Dabei erleben wir gerade den Sommer, den wir gern gehabt hätten: und befinden uns daher gefühlstechnisch so weit entfernt von Schneeflocken und Lebkuchen wie der Papst von der Ökumene.

„Endlich werden die Tage wieder kürzer“, steht in dem Newsletter eines schwedischen Möbelhauses, das einem guten Freund zugesendet wird und der beim Lesen dessen beinahe vom Stuhl kippt. Endlich wird das Wetter mieser und die Menschen trauriger?
Ist das der Grund, weshalb schon Ende September alles zu glänzen und zu leuchten beginnt? Vielleicht sollen uns die Rentiere und Hand geblasenen Weihnachtskugeln ja davon abhalten, uns umzusehen und die Dunkelheit zu bemerken. 
Die Flucht in den Konsum. 
Sie soll uns helfen, zu vergessen. 
Oder ist es nur ein gutgemeinte Hinweis von ein paar Kaufhausmogulen, - damit wir, ihre Mitmenschen, nicht Gefahr laufen, zu vergessen, dass in diesem Jahr noch Weihnachten ansteht?

Der Gedanke, dass bereits mehr Monate des Jahres vergingen als noch kommen, ist tatsächlich naheliegend; und es ist auch gar nicht verwerflich, innezuhalten und zu bemerken, an welcher Stelle des Jahres man sich gerade befindet; aber es gehört doch einiges dazu, zu dem Schluss zu gelangen, dass das einzige, das jetzt noch komme, Weihnachten sei und man deshalb besser schon mal den Schlitten rausholt. 
Gebäck der Saison: den Zimtstern
gibt's jetzt schon im Herbst

Denn wohin führt diese Weihnachtstaubheit?
Sicherlich, die Globalisierung verschiebt Grenzen und macht Distanzen unsichtbar. Wir trinken chilenischen Wein und essen Bratwurst mit Couscous, wir tanzen zu Klezmer und knabbern chinesisches Reisgebäck. Aber kann man uns vormachen, dass Weihnachten nicht mehr im Dezember liegt? Den Türken wird der Beitritt zur EU verweigert, unter anderem, weil sie kein christliches Land seien. Wir beweisen unsere Christlichkeit gerne bei Papstbesuchen und haben bei all dem Durcheinander ganz vergessen, wann denn nun eigentlich die Adventszeit beginnt. Lange vor Allerheiligen und dem Totensonntag lächeln uns rotbäckige Weihnachtsmänner entgegen und wir lächeln zurück. 

Gehört es zur bürgerlichen Toleranz, dass wir über die Adventskalender und Keksdosen hinwegsehen, oder sind wir schon so taub und abgestumpft, dass uns selbst Weihnachtsmänner im September nicht mehr abschrecken?

Werden wir in künftigen Jahren im Oktober bei Kürbissuppe sitzen und unseren Kindern erzählen, der Kürbis, ja, der Kürbis wäre ein weihnachtliches Gewächs?
Und werden unsere Kinder nicht ganz wahnsinnig, wenn die Weihnachtszeit nun fast ein halbes Jahr dauert? Wie viele Geschenke wollen sie haben, wenn sie innerhalb eines halben Jahres so eingelullt werden, dass sie nur noch Christstollen und Zimtsterne sehen.

Natürlich, so oder so wird er kommen, der Advent, die tatsächliche Ankunft und der Beginn der Weihnachtszeit. Aber dann haben wir uns vielleicht schon satt gegessen an all den Vanillekipferl und beschweren uns, dass wir gar keine Zeit hatten, Halloween zu feiern. 

Wenn die Weihnachtszeit tatsächlich schon so nah rückt, dann doch bitte konsequent, mit Adventskalendern, die nicht nur 24 Tage, sondern auch vier Monate – September, Oktober, November und Dezember - berücksichtigen. Aber da rümpfen sie die Nase, die Kaufhauschefs und Designer. Weihnachten, das sei doch Ende des Jahres. 

Gemieden werden die Kaufhäuser nicht, in denen die Engel singen und die Christbaumkugeln glänzen. Es wird auch noch dauern, bis die ersten Nikoläuse vor Rolltreppen sitzen und Kindern auf ihrem Schoß Geschenke versprechen. 
Und ein jeder, der dem Wahnsinn gefolgt ist und sich eine Tüte Spekulatius gegönnt hat, der weiß, dass die im Sommer gar nicht schmecken. 

Bildnachweise: (1) Zimtsterne: 
media.kunst-fuer-alle.de/img/37/g/37_299510~_stephanie-deissner-(f1-online)_zimtstern.jpg; die Bloggerin distanziert sich von jeglichen Inhalten der genannten Seiten.

Dienstag, 27. September 2011

Von wegen Semesterferien

Noch immer sind die Semesterferien nicht vorbei; doch wer denkt, dass diese ausschließlich an südeuropäischen Stränden verbracht werden, der irrt sich gewaltig: 
Jennifer Zorn ist sechsundzwanzig Jahre alt und studiert Kunstgeschichte im fünften Semester an der Marburger Philipps-Universität. In ihrer Freizeit pflegt sie deutsche Kriegsgräber, - doch was zunächst nach eintönig-einsamer Friedhofsarbeit klingt, ist tatsächlich ein vielseitiger Zeitvertreib, der ganz im Zeichen der Friedensarbeit steht.
Im Interview spricht die Studentin über ihre Aufgaben, ihre Motivation und trauernde Nationen.

Frage: Du arbeitest seit Anfang des Jahres beim Jugendarbeitskreis des Volksbundes für Deutsche Kriegsgräberfürsorge Hessen e.V. Was war deine Motivation, zum Volksbund zu gehen? 
Antwort: Ich kam zum Volksbund, weil mich der historische Hintergrund der Aktionen neugierig machte. Natürlich war ich auch durch meinen Studiengang an der Kriegsgräberfürsorge interessiert, aber ich habe schnell gemerkt, dass meine Motivation darüber hinaus geht. Es ist alles sehr ergreifend und emotional, zudem historisch und doch nicht vergangen. Irgendwo wird man irgendwann mitgerissen.

Frage: Du kommst gerade von einem Kid Camp in Frankreich. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Antwort: Das Camp war klasse. Wir waren knapp zwei Wochen in Niederbronn-Les Bains, also in der Nähe von Straßbourg und Verdun. Die Kinder waren zwischen 13 und 16 Jahren alt, also in einem Alter, in dem man zunächst kein Interesse an der Pflege von Kriegsgräbern vermuten würde.

Frage: Wie läuft so eine Freizeit im Camp ab?
Antwort: Die Zeit im Camp besteht aus verschiedenen Komponenten, sowohl aus Friedensarbeit als auch aus Freizeitaktivitäten; wir zeigen Filme und bieten themenbezogene Workshops an, zum Beispiel zum Thema Toleranz. Dort haben die Kinder viel über Mobbing und Vorurteile erzählt, genau so gibt es historische Workshops zum Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Meine Aufgabe ist es, die Kinder zu betreuen, Ausflüge zu organisieren und ihren Blick für die Arbeit am Frieden zu schärfen. Es läuft alles sehr spielerisch ab, wir befinden uns dabei nicht ausschließlich auf Friedhöfen, sondern haben auch Kanufahrten unternommen; dennoch ist es den Kindern erstaunlich klar, unter welchem Motto die Freizeit steht.
Zum Abschluss des Camps haben wir eine Trauerfeier zum Gedenken an die Toten organisiert. Man könnte glauben, dass Kinder in diesem Alter den Rahmen der Veranstaltungen noch nicht recht nachvollziehen können, aber sie haben wirklich viel geleistet.

Frage: Welche Beobachtungen hast du gemacht?
Jennifer Zorn mit den Jugendlichen unterwegs
Antwort: Sehr viele und sehr eindrückliche. Einerseits war die Arbeit mit den Kindern unglaublich angenehm und lustig, andererseits war der Hintergrund unserer Workshops – die aktive Arbeit am Frieden – ständig präsent.
Wir haben Gräber in Niederbronn gepflegt und gesäubert, dort befinden sich ein deutscher Soldatenfriedhof und eine Jugendbegegnungsstätte. Genau so haben wir einen US-amerikanischen Friedhof besucht, wo wir sogar die Möglichkeit hatten, eine Trauerfeier zu erleben. Das war schon sehr anders für uns, - jede Nation trauert anders. 

Frage: Ihr pflegt Kriegsgräber aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Welche Stellung nehmt ihr zu aktuellen kriegerischen Handlungen ein? Sind diese auch Thema einer solchen Freizeit?
Antwort: Ja, unbedingt. Friede entsteht ja nicht allein durch das Putzen von Gräbern. Wir haben einen Afghanistan-Soldaten ins Camp eingeladen, der mit den Kindern über die momentanen Geschehnisse gesprochen hat. Es ist wichtig, die Brücke zwischen vergangenen und aktuellen Kriegen zu schlagen und sich dessen bewusst zu sein. Erst dann kann man mit aktiver Friedensarbeit beginnen.

Frage: Das Kid Camp ist vorbei. Was steht als nächstes an?
Antwort: Zur aktiven Arbeit am Frieden gehört natürlich die Kriegsgräberfürsorge, aber eben genauso das Gedenken an Vergangenes. Deshalb ist auch der Jugendarbeitskreis Hessen gerade mit den Festlichkeiten rund um den Volkstrauertag beschäftigt, der in der Frankfurter Paulskirche stattfindet und vom Volksbund organisiert wird. Zu meinen Aufgaben gehört es auch, dort eine Rede vor mehr als dreihundert Menschen zu halten.

In Niederbronn
Frage: Noch eine letzte Frage: Wer kann beim Volksbund mitmachen?
Antwort: Auch mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende besteht der Hauptaspekt der Arbeit des Volksbundes noch immer darin, die friedliche Aufarbeitung der beiden Weltkriege zu organisieren, zu betreuen und das Bewusstsein für ein friedliches Miteinander zu schärfen. Deshalb suchen wir stets nach neuen Helferinnen und Helfern. Es ist wirklich jeder willkommen. Das angenehme ist, dass man sich beliebig engagieren kann, - ob als Helfer bei den Treffen des Jugendarbeitskreises Hessen oder als Teamer in einem Camp. 

Mehr Informationen zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gibts hier

Sonntag, 11. September 2011

Antophologen bauen keine Häuser

Deutschland ist ein bemerkenswertes Land. Mit 21 können junge Menschen hier schon einen persönlichen Finanzmanager akkreditieren, auch wenn sie über fast keine nennenswerten Finanzen verfügen.
Vielleicht werde ich ja gerade deshalb an einem verregneten Dienstag zu Herrn Kules gebeten, meinem eigenen Finanzmanager, um ihn kennen zu lernen.  

In diesem Land gibt es viele Termine, die ein Bürger absolviert, weil man sich kennen lernen will. Dabei will der gemeine Deutsche eigentlich selten Kontakte knüpfen, zumindest nicht zu seinem Finanzmanager oder seinem Bausparexperten. Auch im Urlaub bleibt man lieber unter sich und gibt sich, sobald andere Landsmänner und –frauen gesichtet, besondere Mühe, nicht als solcher erkannt zu werden.
Aber der Urlaub ist vorbei, und somit auch die Zeit, in der man entscheiden kann, wen man kennen lernt und wen nicht. 

Ein bisschen gelangweilt sitze ich da und betrachte die neongrünen Schnürsenkel meiner Schuhe, durch die der erste Septemberregen dringt. Kurz darauf steht Herr Kules vor mir. Er strahlt übers ganze Gesicht, denn es ist sein Moment. Jetzt lernen wir uns kennen und wie zum Beweis streckt er ohne zu zögern die rechte Hand aus, die ich schütteln darf.
Herr Kules scheint so glücklich, dass ich mir sicher bin, die wahre Bedeutung dieser Begegnung noch nicht erahnt zu haben.

Durch einen endlos weißen Flur geleitet er mich zu einem traurigen Büro, in dem kein Zeichen einer menschlichen Existenz zu erkennen ist. Der Kollege ist im Urlaub, erklärt er und zeigt mit der Hand auf einen Stuhl. Ich folge seiner Aufforderung und setze mich, während Herr Kules mir gegenüber hinterm Schreibtisch Platz nimmt. 
Noch einmal erzählt er mir, dass er mich kennen lernen wollte. Läge mein Geld nicht bei dieser Bank, hätte ich spätestens jetzt einen Weg gesucht, zu gehen. Aber läge mein Geld nicht bei dieser Bank, wäre ich auch gar nicht hier.
Er erzählt ein bisschen von sich, denn wir lernen uns gerade kennen.

Geld ist sein Geschäft und schon bald will Herr Kules mich nicht nur kennen lernen, sondern auch gleich mehr: Ob ich schon verdienen würde, fragt er mich, wie viel ich verdiene und wo.
Was ich studiere.
Ich studiere Kultur- und Sozialanthropologie und Linguistik, sage ich ihm. Er runzelt die Stirn und lächelt dann ein wenig hilflos.  
Gut, was schreibe ich da jetzt auf, fragt er und scheinbar ist diese Frage mehr an ihn selbst gerichtet als an mich.
Ich versuche, ihm zu helfen. Na, Anthropologie.
Natürlich. Er nickt und zögert dennoch, der Stift mit dem Emblem seiner Bank rudert über dem Papier in der Luft.
Ich schreibe es wahrscheinlich falsch, sagt er und lacht schrill, aber ich weiß, was gemeint ist.
Ich bin mir da nicht sicher, denn er schreibt Antophologie. 

Nun, sagt er geschäftig und lächelt, denn er meint es gut mit mir. Was werden Sie denn später mal verdienen?
Ich muss lachen. Ich kann es nicht ändern. Wissen Sie, sage ich, es kann sein, dass ich gar nichts verdienen werde.
Herr Kules lächelt. Er versteht. Nicht. Denn er ist Geschäftsmann. Nun, in welcher Sparte werden Sie denn arbeiten, nachdem Sie Ihren Abschluss gemacht haben?
Auch das kann ich ihm nicht sagen. Ich kann es ihm einfach nicht sagen. Und ich hätte es ihm tatsächlich gern gesagt.
Das gefällt Herrn Kules weniger. Er schweigt und fährt sich durch die Borstenhaare.
Es kann sein, sage ich und versuche, ihm irgendwie entgegenzukommen, dass ich sehr viel verdiene. Es kann aber auch sein, dass ich sehr wenig verdiene.
Herr Kules nickt. Also wissen Sie es noch nicht. 
Ich bejahe. 

Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als wolle er mich fragen, ob ich nicht besorgt sei; so blind in die Zukunft zu tapern, finanziell abhängig von den Eltern, allein, als Frau. Aber er schluckt seine Einwände hinunter und schenkt mir ein weiteres zinsfreies Lächeln. 
Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, wo Sie später wohnen wollen? Ich gucke ihn groß an und antworte nicht. Er rudert mit den Armen. Wollen Sie in eine Wohnung ziehen, eine Wohnung kaufen oder ein Haus bauen?
Ich kann Ihnen wenige Zusagen machen, meine ich, aber ein Haus werde ich nie bauen oder kaufen. Und eine Wohnung auch nicht. Ich verzichte darauf, ihn noch einmal darauf hinzuweisen, dass dies womöglich gar keine bewusste Entscheidung meinerseits ist. Antophologen bauen keine Häuser.
Gut, sagt er und klingt fast erleichtert. Damit kann er arbeiten. Sie fragen sich sicherlich, weshalb ich Sie das alles frage, beginnt er nun. Sie sind einundzwanzig – und da sollten Sie sich schon einmal Gedanken über Ihre Rente machen. 

An dieser Stelle nehmen das Gespräch und auch die Existenz meines persönlichen Finanzmanagers absurde Züge an. 
Wenn Sie sich mit Anfang vierzig Gedanken über Ihre Rente machen, ist das zu spät. Die Worte kommen hart und ungeschönt, aber Herr Kules fährt ungestört fort: Es reicht nicht, sich 27 Jahre vorher zu überlegen, wie man sich den Ruhestand sichert. 

Ich sage nichts. 
Ich weiß tatsächlich nichts zu sagen, denn ich bin noch nicht einmal 27. 

27, das ist eine Zahl, deren zeitliche Länge ich mir noch nicht vorstellen kann. Abgesehen von der Tatsache, dass wir gerade von Rente sprechen, nachdem ich bekundigen musste, überhaupt nicht zu wissen, ob ich einen Arbeitsplatz finde. 
Wenn Sie in diesem Jahr noch beginnen, monatlich 100 Euro auf die Seite zu legen, bekommen Sie mit 67 eine monatliche Rente von etwa 150 Euro dazu, erklärt er mir. 
An dieser Stelle wird Herr Kules vom Mensch zur Maschine: Zahlen, Daten, Zinssätze und Prozente hageln auf mich hinab, Folien werden mir präsentiert, Pfeile zeigen wild in viele Richtungen, verfolgt von Herrn Kules Fingern, die darauf hin- und herrasen. 
Wenn Sie dann 67 sind, beendet er voller Stolz seinen Finanzmonolog und strahlt mich zufrieden an, erhalten Sie von uns 15 Jahre lang Ihre angesparte und wohlverdiente Rente. 

Und dann? 
Dann sterbe ich mit 82, denn meine Bank sieht es nicht vor, dass ich älter werde. Dabei ist es doch kein Geheimnis, dass die Menschen immer älter werden. Und gerade die Frauen. 
Fragen Sie mal einen Soziologen. Oder einen Antophologen. 

Herr Kules ist stark davon überzeugt, dass er mich mit seinem verführerischen Aufsagen von Bankkonditionen für das Unternehmen gewinnen konnte.
Machen Sie sich Gedanken, sagt er, als er mir die Hand schüttelt, wir wollen nur Ihr Bestes. 

Es regnet noch immer, als ich auf die Straße trete. 
Der Mensch ist kompliziert. Gerade der Deutsche. Er möchte immer gerne alles wissen; was geschehen wird; was man vorhat.  
Ich habe keine Ahnung, was ich vorhabe, was ich tun werde oder was ich werden werde. 
Ich beschließe, mir eine Bank zu suchen, die mir noch nicht sagen kann, wann ich zu sterben habe. 

Montag, 22. August 2011

Marburger Allerlei

In der Mensa wird es nie langweilig

Leidig ist es, über die Mensa zu schreiben und zu lesen; denn eine Mensa ist eine Mensa. Und dass Johann Lafer nicht am Erlenring kocht, ist kein Geheimnis, sondern eine Tatsache, die man recht leicht hinnehmen kann. 

Kocht nicht nur mit Wasser: 
die Marburger Mensa
Während der Ersti noch zögernd und kritisch die Mensa und ihre Köstlichkeiten beäugt, geschieht diese Verköstigungsprobe in den folgenden Semestern in schleichender Regelmäßigkeit. Was der Ersti noch ahnt, weiß der Master schon: als Student nämlich muss man über formloses Veggie-Gyros, geschmacklose Gnocchi oder gesalzen-suppiges Salatdressing hinwegsehen können; und tatsächlich ist der bon goût kein Kriterium für einen Besuch in der studentischen Kantine. 

Doch in den Semesterferien leistet sich die Marburger Mensa einen Klops nach dem anderen. Man entschied sich scheinbar gegen die Langeweile und für das Ereignis, denn es sind regelrechte Happenings, die da statt finden, und die keinem Fluxus-Künstler in den Sinn gekommen wären: Bestandteile eines Gummihandschuhs landeten im Hauptgericht und bieten eine recht interessante Abwechslung zu all den Kartoffeln, Nudeln und Soßen. Eine Kugelschreiberspirale fand ebenfalls unberechtigter Weise ihren Weg auf den studentischen Teller und sorgte für Verwunderung und Missmut. 
Auf die Frage hin, ob beim ungewollten Verzehr von Schreibtischzubehör zumindest der Betrag von 2.45 Euro zurückerstattet werden würde, folgte eine still geschwiegene Pause und der gut gemeinte Lösungsvorschlag, sich doch zwei neue Beilagen auszusuchen. 
Aber wer einen Liter saure Milch kauft, will keine Kuh geschenkt. 


Dabei ist die am Erlenring gebotene Auswahl nicht zu verachten, wird sie doch von manchem Studenten sogar liebevoll mit einem "Jahresadventskalender" verglichen, so groß ist die Vorfreude auf das Gezauberte, so groß das Rätseln um den Inhalt. 

Um die kulinarischen Vorlieben der Studierenden in Erfahrung zu bringen, fand erst vor wenigen wenigen Monaten eine ausführliche Umfrage statt, die darauf zielte, eben diese bald in der Mensa anbieten zu können. Scheinbar nahmen auch einige Steinbeißer daran teil. 

Mehr Pudding bitte, - denn der ist tatsächlich unschlagbar und deshalb völlig zurecht die Nummer 1 in der Kantinenhitparade. 
Mehr Gemüse.
Ein bisschen mehr Geschmack. 
Und weniger Schreib- oder Putzutensilien zwischen Reis und Schnitzel. Dann wären wir schon zufrieden. 

Bildnachweis: (1) Adventskalender: www.freiluft-blog.de; (2) Marburger Mensa: www.uni-marburg.de; die Bloggerin distanziert sich von jeglichen Inhalten der genannten Seiten.

Donnerstag, 18. August 2011

Nachts. In der BIB.

Die Semesterferien sind eine Zeit der Extreme; des extremen Sommers zum Beispiel, in dem es regnet und stürmt, während kurz darauf die Sonne hervorkommt und Hessen mit guter Laune bestrahlt. Aber diese zweieinhalb Monate, in denen sich der ordentlich eingeschriebene Student unter Sonne und Wolken räkelt, sind keineswegs eine Zeit des süßen Nichtstuns. 

Malediven: die BIB ist anders. 
Denn wer, - aus welchen Gründen auch immer - zu dieser Zeit die Universitätsbibliothek (den vielversprechenden Kubus neben den künftigen Weltkulturerbepavillons der Marburger Phil-Fak) aufsucht, der erfährt das etwas andere Gesicht der Semesterferien: den Studierenden, die in diesen Tagen die Kopierer, Rechner und Lesesäle der BIB gegen Handtücher und feinkörnigen Sand austauschen, ist das Wetter gänzlich egal, denn wenn sie den Ort der Taten und Gedanken wieder verlassen, ist es bereits dunkel und wohl nach Mitternacht. Jene, für die die gesellschaftlich imprägnierte Traumsymbiose von Sommer und Freizeit pure Romantik ist, verbringen ihre Zeit - vielleicht nicht lieber, sondern intensiver - mit Georg Simmel, Niklas Luhmann und / oder Meilensteinen der Kunstgeschichte in Florenz und Mailand. 

Dabei kann der uneingeschränkte Beobachter recht bald einige interessante Auffälligkeiten bemerken: je später es wird, desto seltener sind und werden die wenigen, die es noch an den Rechnern hält. 
Die BIB im Sonnenuntergang: wenig Sand und Ozean
Gerade gegen Ende erhält man schnell das Gefühl, dieser Tag im Bücherwürfel sei tatsächlich auch der letzte; denn wenn sich um 23:30 Uhr langsam die Reihen lichten, weil die Augen kleiner und der Hunger größer werden, dann gibt es doch ein paar Individuen, die scheinbar auch nicht davor zurückschrecken würden, in der BIB zu nächtigen. 

Geschäftiges Treiben. Gegen 23:45 Uhr ist noch immer kein Ende zu sehen, und wenn wenige Minuten vor Schließung eine Eilmeldung auf den Rechnern erscheint, dass diese in Kürze herunter gefahren werden, tritt leichte Panik in die Gesichter der angestrengt Tippenden.
So jeden Abend. Jede Woche. Die ganzen Ferien über. 

Man hat es vermuten können, denn die Form der Universitätsbibliothek ist tatsächlich verräterisch, und doch: die BIB, sie ist ein Paralleluniversum. Eine andere Welt. In der äußere Bedingungen keine Rolle spielen, zu der sie keinen Zugang haben. 

Und so beschwingend das Gefühl nach einer um 23:59 Uhr beendeten Hausarbeit doch sein mag, - all jene, die ihr euren Sommer, oder auch nur eure Ferien, nicht in der BIB verbringen könnt und dürft, seid froh und genießt eure Zeit. 

Bildangabe:
(1) Malediven: twiggy.net; (2) BIB: blackcklime.blogspot.com ; die Bloggerin distanziert sich von jeglichen Inhalten der genannten Seiten. 

Montag, 15. August 2011

Im Vakuum


Mit seinen 80 000 Einwohnern ist Marburg eine Kleinstadt.
Eine kleine Studentenstadt, die kaum Platz für all die Studenten hat, die hierher kommen, beflügelt oder gedrängt vom Wunsch, Akademiker zu werden; eine Stadt, die jedes Jahr aufs Neue mit diesem Problem zu kämpfen hat und die sich im nächsten Wintersemester erneut mit einer Flut von Studierenden zu kämpfen hat, die zum ersten Mal mit acht Jahren und ohne anschließenden Wehrdienst die Schule verlassen. 
Auf Parkplätzen wird da geschlafen, in Autos wird übernachtet, auf den großen oder auch kleinen Korridoren bereits ausgebuchter Studentenwohnheime, so genannten Notunterkünften. 
So eng sich die Oberstadt an den Schlossberg drängt, so eng und schmal erscheint uns die Stadt zu Zeiten, in denen Wogen von Studenten die Straßen, Busse und Institute überfluten. 

Nicht so in den Semesterferien. 

In den Semesterferien, in den großen Semesterferien des Sommersemesters, die sich beinahe über drei Monate erstrecken, wirkt die Stadt wie leer gefegt, wie verlassen, ein Vakuum des Körpers - und des Geistes. 

Semesterferien: überall. 
Mit einem Male kriegt man einen Platz in Cafés und Parkplätzen, die Schlangen in örtlichen Supermärkten sind gar nicht mehr so lang, und man begegnet Menschen, die man hier zuvor nie gesehen hat. Für Marburger Verhältnisse beinahe unvorstellbar.
Irgendwie scheint es, als habe man nicht nur deutlich mehr Zeit, sondern auch deutlich mehr Raum, um die Dinge zu tun, die man im Semester und während der Prüfungszeit doch ach so gerne tun wollte.

Dabei sollte man sich nichts vormachen: die Leere in der Stadt ist gleich der Leere im Kopf und zu großen geistigen Taten ist man zu dieser Zeit nicht fähig. 

Tage verstreichen und Nächte kommen, in denen nichts geschieht. Die Menschen, sie sind ausgeflogen, mit ihnen ging der Wille, irgendetwas zu tun, und auch der Sommer.
Denn was tun im Sommer, wenn dieser selbst verschwand?

Das Wetter ist in diesen Tagen (k)ein Thema, mit dem man sich Freunde macht, und dennoch muss man dem Deutschen zu Gute halten, dass er sich weitaus weniger über die Wolken und den Regen und die hochsommerliche Kälte auslässt als er könnte oder als man es ihm so gerne nachsagt. 

Ein Vakuum also, das sogar unseren doch so bekannten Meckerinstinkt lahm legt und uns dahin  vegetieren lässt. Semesterferien, noch zwei Monate. 
Und obgleich elende Langeweile bei Zeiten unser Gemüt vernebelt, ist schon jetzt zu erahnen, wie schwer es sein wird, Mitte Oktober zurück in die Realität zu finden.